Liebe Anwesende,
im
Laufe der vergangenen Wochen ist hier, auf dem Grab des Poeten Tristan Tzara
eine seltene Pflanze
herangewachsen, die wir heute in ihrem Beisein ernten wollen. Wir nennen sie
das "Tzaradieschen" -
ein Ausdruck in dem dreierlei anklingt: Der Künstlername des Dichters,
die Bezeichnung des Gewächses
und das Wort Paradies.
Mit Tristan Tzara, der 1896 unter dem Namen Sami Rosenstock in Rumänien
geboren wurde, wird
vornehmlich die DADA Bewegung in Verbindung gebracht. Sie nahm ihren Anfang
im Zürich des Jahres
1916, wo sich Tzara im Kabarett Voltaire regelmäßig mit anderen
internationalen Kunstschaffenden wie
Hugo Ball, Hans Arp oder Richard Hülsenbeck traf. Angesichts der Schrecken
des ersten Weltkriegs
suchte diese Gruppe von Exilanten nach neuen Formen, um ihrem Gefühl
der Ohnmacht und Frustration
Ausdruck zu verleihen.
Dem Wahnsinn der Zeit, welcher mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr
zu fassen war, und einer
Gesellschaft, die diesen hervorbrachte, setzte DADA eine Praxis provokativer
Kritik entgegen. Ein Protest,
der sich zunächst jeder Programmatik entzog. Es war nicht zuletzt Tristan
Tzaras publizistische Tätigkeit
welche, oft gegen den Widerstand seiner Mitstreiter, DADA schließlich
als eigenständige Kunstbewegung
zu etablieren vermochte.
1919 zog Tzara von Zürich nach Paris, wo er zusammen mit André
Breton die Pariser DADA-Gruppe
gründete, aus welcher 1923 der Surrealismus hervorging. Der Wortspieler
Tzara war so zum zweiten
Mal maßgeblich an der Gründung einer der bedeutendsten Kunstrichtungen
des 20. Jahrhunderts beteiligt.
Doch nicht allein die historische Bedeutung der Persönlichkeit Tristan
Tzaras war es, die uns bei unserem
ersten Besuch des Friedhofs Montparnasse angesprochen hat; es war auch sein
außergewöhnliches Grab,
welches durch seine krause Wildheit und ansprechende Ungepflegtheit unsere
Aufmerksamkeit erregte.
Sofort waren wir uns im klaren darüber, dass hier ein idealer Ort für
eine künstlerische Interventionen
gefunden war: Am 27. Juli haben wir hier, an Tristan Tzaras Grab, ein Radieschen
gesät und legen seitdem
täglich den 10 km langen Weg zu dessen Pflege zurück - mit Ausnahme
einiger Regentage und der Zeit
unserer Abwesenheit, in der wir von verschiedenen Freunden vertreten wurden,
denen wir bei dieser
Gelegenheit für ihren Einsatz herzlich danken möchten.
Nach Zeiten des Bangens und allen Unwägbarkeiten zum Trotz, denen das
zarte Pflänzchen an diesem
Ort ausgesetzt war, scheint es so, dass die Zucht des Tzaradieschens gelungen
ist. Auch wenn der Name
Tristan Tzara in direkter Übersetzung aus dem Rumänischen nichts
anderes bedeutet als "Traurige Erde",
werden wir beim Anblick seines Grabes doch eher an den Hortus Conclusus, das
eingefriedete
Paradiesgärtlein, erinnert, das auch in einem aufgeklärten Weltbild
als Ort der Ruhe und Behaglichkeit
gelesen werden kann.
Wir Lebenden allerdings tun gut daran, uns nicht in die Teilnahmslosigkeit
eines Garten Eden zurückzuziehen,
sondern sollten, um mit dem DADAisten Hans Arp zu sprechen, nicht damit aufhören,
dem Unsinn der Welt,
zumindest den Ohne-Sinn der Kunst entgegen zu setzen.
Herzlichen Dank